Samstag, 2. März 2013

"Wann ein Grosser mit einem Kleinen zu thun" etc. - Gegnerspezifik bei Johann Andreas Schmidt

Der Fechtmeister Johann Andreas Schmidt diskutierte in seiner „Leib-beschirmende und Feinden Trotz-bietende Fecht-Kunst“ (zuerst 1713 in Nürnberg) in Abteilung vier, Kapitel XVI das bewegungstaktische Verhalten „eines Grossen und eines Kleinen / eines Starcken und eines Schwachen / eines überhäuften Courageusen und eines Furchtsamen“. Schmidt legte das Kapitel „in Frag und Antwort eingetheilet“ an und stellte darin dar, "wie sich beyde Theile bey einer Action, im Fechten / erweisen sollen."

1.
Wann ein Grosser mit einem Kleinen zu thun / wie er seinen Vortheil im Fechten in acht nehmen soll?

Wann ein Grosser mit einem Kleinen zu thun hat; soll er seinen Vortheil in so weit vorstehen / daß er / weil er viel grösser ist / auch weiter weichen könne / sowol wegen seiner Grösse / als auch weil er den Leib besser überlegen kan / welche Uberbiegung dann ihm so weit für hilfft / daß er seinen Feind / dieser aber ihn nicht treffen kan; dann dieses muß ein Grosser wol in acht nehmen / daß / wann er nur seine Mensur zuerst erlanget hat / und der Kleine / um des Grossen Klinge zu stringiren / fort- oder zu-rücket / es ein Tempo sey / darinnen der Grosse den Kleinen verletzen / oder duch eine Finta in Unordnung bringen könne / indem er ihm zeiget / daß er das tempo, da sich der Kleine beweget / in acht genommen / und in die Blösse / welche er wird gemacht haben / als er hat wollen nach der Klinge gehen / treffen / auch alsobald wieder darauf die mensur brechen / da er sich dann so weit wird entfernet finden / daß der Kleine nicht wird anreichen können; Oder wann er ja von besagtem nichts zu Werck bringen könnte / soll er sich / indem er immer um so viel / als der Kleine zurücket / die Mensur bricht / daß er ihn nicht lasse zu seinem Zweck gelangen / so lange aufhalten / bis sich Gelegenheit eräugnet / entweder zu stossen / oder ihn anderswo in Botmässigkeit zu bringen. In allen diesen Würckungen / darff er nicht paßiren / nur muß er / wann etwan der Kleine paßirete / den Leib ausser Gefahr der Presenz bringen / und die Mensur brechen / daß derselbe nicht paßiren könne / er sey dann von der Spitze aufgehalten / und getroffen / so wird ihm bald der Lust zum Paßiren vergehen.

2.
Was hat der Kleine wegen seines Vortheils in acht zu nehmen / wann er mit einem Grossen zu thun?

Obwohl der Grosse einen grossen Vortheil der Linie hat; dennoch weil seine Bewegungen sehr langsam und mit grossen Blössen gemacht werden / kan er nicht so wol aus der Presenz fallen; ja weil das Ziel-Mal / darnach man stösset / viel grösser; bringet es dem Kleinen einen grossen Vortheil zum Verletzen / wann er sonderlich sich wol in seiner Mensur zu practiciren weiß: Denn weil ihn seine Klinge mehr bedecket er auch / um sich zu beschützen / nicht so grosse Bewegungen bedarff / ja weil er die gröste Gefahr / nemlich des Feindes Spitze ehe / als der Feind die seinige paßiret ist / auch seine Blössen viel kleiner sind; ist er weniger Gefahr unterworffen / und sind drum alle seine Würckungen viel sicherer als des Grossen seine.

3.
Was aber ein Starcker für Vortheile gegen einen Schwachen hat / ist vorher schon an sich selbsten genugsam bekant: doch magman sich wol in acht nehmen / und behutsam gehen / daß wann man des Schwachen Klinge stringiret / man nicht zu weitläuffig gehe / und zu viel Blösse gebe / damit der Schwache nicht a tempo gehe / und ihn also verletze.

4.
Was hat ein Schwacher in acht zu nehmen / wann er mit einem Starcken zu thun?

Ein Schwacher muß des Starcken Klinge allezeit meiden / und seine nicht finden lassen / viel weniger dem Starcken / wann er stossen will / zu pariren entgegen gehen: Sondern muß nur mit Wendung oder Retirirung des Leibes / die Stösse vermeiden / seine Klinge allezeit ffrey behalten / auch sich nicht zu viel wagen / dem Feinde sich zu nähern; hingegen soll ein Schwacher allezeit dem Feinde die Spitze vor- und entgegen halten / auf daß derselbe nicht paßiren könne / auch seich in de weiten Mensur erhalten / und seine Klinge nicht finden lassen / jedoch kan er dem Starcken wol / auf unterschiedene Art / durch ein betrüglich Tempo zum Stoß locken / oder sich stellen / als wolte er ihm die Klinge geben / auf daß / wann er nun meinet / er habe sie gewiß / und sich darum in selbigem Tempo beweget / er ein wenig die Mensur breche / und in die Blösse / so der Starkce alsdann gibet / stosse.

5.
Was zu thun / wann mit einem Jähzornigen oder überhäuften Courageusen zu thun hat?

Wann man mit einem Jähzornigen oder überhäuften Courageusen zu schaffen hat / soll man ihn anreitzen und angreiffen / daß er drauf loß gehe / auf daß man / indem er so zugehet / einen Vortheil ersehen / und ihn treffen könne; Aber es ist nicht gut / daß sich einer bemühet / auf solchen Fall hinein zu gehen / damit er nicht ohne einigen Vortheil des Degens mit ihm vom Fechten zum Ringen gerathe; Sondern er soll ihm vielmehr in seiner Künheit helffen / indem er ihm Gelegenheit gibt / damit er desto eher und leichter verfalle / in welchem Verfallen einer dann wider ihn gehen / und würcken / oder nach begebendem Fall / sich retiriren kan / auf daß einer sich selbst beschützen / und in selbigem tempo, ehe der Verwegene paßiret ist / ihn verletzen möge.

6.
Was zu thun / wann einer mit einem Furchtsamen zu schaffen?

Wann einer mit einem Furchtsamen / Trägen / oder auch mit einem Schleich-Fuchse zu thun / welcher nur auf den andern lauret / kan er denselben wol angreiffen / jedoch mit solcher Vorsichtigkeit / daß er nicht betrogen werde: Dann es wird einer vielmals wegen des Eifers und Verlangens / den andern zu treffen / indem er glaubet / es sey bey dem Feinde anders nicht zu thun / als daß man ihm eine Furcht einjage / selbst getroffen / da sich einer hergegen / wann er des andern erwartet / oder sein gemach und behutsam gehet / viel leichter schützen und den andern verletzen kan.

Auseinandersetzungen mit der Gegnerspezifik: Andere Autoren
Über spezifische Bewegungstaktik im Gefecht, die die Physis und das Verhalten des Gegners als Bezugspunkt nehmen, schreiben in jeweils gesonderten Kapiteln ihrer Bücher auch Salvator Fabris in "Lo Schermo, overo Scienza d’Arme" von 1606 (das Johann Andreas Schmidt in der Typisierung sehr wahrscheinlich als Vorbild diente, vgl. die Hynitz'sche Übersetzung aus dem Jahr 1713 (2. Auflage) und Theodor Verolini in "Der künstliche Fechter" von 1679 (basierend auf Joachim Meyers Werk, siehe Hinweise in dem verlinkten Artikel).