Samstag, 10. Januar 2015

Die Übung der Grundlagen des Stoßfechtens: Das Stoßen und Parieren an der Wand nach Siegmund Carl Friedrich Weischner

von Jan Schäfer

Siegmund Carl Friedrich Weischner beschrieb in seinen Fechtbüchern 1764 und 1765 (1) in Kapitel 26 (dem vorletztem Kapitel) mit dem Stoßen und Parieren an der Wand  (2) eine Übungsform, anhand derer die Schüler das Grundcurriculum von Stößen, Paraden, Finten und Cavationen erlernen sollen. Das anfänglich einfache Repertoire aus den Stößen Quarte, Tertie und Seconde und deren simplen Paraden wird mit der Zeit erweitert um Cavations- bzw. Degagementparaden, Finten, das Stoßen mit Cavation und doppelter Cavation, das Parieren mit doppelter Cavation, das Changement der Hand und die Recavation.

Die Idee hinter dem Stoßen und Parieren an der Wand scheint es gewesen zu sein, eine begrenzte Zahl klar definierter Standardsituationen (immer in rechter Mensur, Stöße auf gegebene Blöße) zu schaffen, um die in diesen Situationen sinnvollen Bewegungsmuster (Stöße, Paraden, Cavationen, Finten) zu schulen.

Der Fechtmeister Weischner hatte eine klare Vorstellung davon, wie der zeitliche Fortschritt der Übungen aussehen solle.
  • ein bis zwei Monate: die einfachen Stöße und Paraden Quarte, Tertie und Seconde unter Anleitung des Meisters
  • vier Monate: Fortführung der Übungen zu den einfachen Stoßen und Paraden
  • ein Monat: Cavationsparaden
  • vier Monate: Finten
  • ein bis zwei Monate: Cavationen, doppelte Cavationen, Changement der Faust und Recavationen.
Erst wenn der Schüler nach ungefähr einem Jahr all dies beherrschte, sollte mit dem Contrafechten (im Riemen und frei) begonnen werden. Damit endet das Kapitel über das Stoßen und Parieren an der Wand. Parallel neben dem Stoßen und Parieren an der Wand und aufbauend auf diesem nimmt der Schüler Lektionen beim Meister.

Der Text
[Seite 55] Cap. XXVI. Vom Stossen und pariren an der Wand.

Erste Anmerkung:

1.
Der an der Wand pariren will, stellet sich in ordentliche positur, und senket das rappier mit dem Ballen zur Erden, giebt also die Brust gäntzlich in diesem Lager frey.

2.
Der aber so stossen will, tritt für den parirenden, nimmt die mensur durch einen ungezwungenen Ausfall, ob er damit, richtig zu treffen, reichen kan: hat er nun die rechte treff=mensur, so wird bey seinem hintern Fusse, so allemal stehet, ein Strich gemacht, den er halten muß, oder legt sich in einen Riemen.

3.
Beyde Theile setzen sich also in die beste positur.

4.
Der parirende liegt allemal so fest auf der Seite, wo der stossende liegt, so, daß ihm niemals

[Seite 56] mals kan durchgestossen werden, sondern er allemahl die Blöse mit der andern Seite giebt.

5.
Der stossende, e.g. so auswendig liegt, stößt die Quarte inwendig, er treffe oder fehle, so gehet er an der nemlichen Seite zurück, wo er gestossen hat, engagiret die Klinge des contreparts, und stößt auswendig Quarte oder Tertie, verfährt im rückgehen wiederum wie inwendig, und so continuiret er jedesmal, ohne sein dessein oder Lager zu verändern, bis er geschickt wird.

6.
Will der stossende prüfen, ob er richtig gestossen hat, so bleibe er nach seinem Ausfall, wenn ihm auch ist pariret worden, liegen, und sehe, ob er die rechte mensur genommen, die linie mit dem Arme gehalten, mit dem rappier in Hebung und Drehung der Faust, durch Winkel oder diameter richtig und bedeckt gestossen hat, da er auch zugleich entdecken wird, daß ihm der contrepart, ohne sich selbst zu laediren, nicht leicht mehr stossen kan.

7.
Der

[Seite 57] Der parirende muß sich beurtheilen, ob er bey seiner parade allemal die Faust in rechten Winkel gesetzet, den Ballen des rappiers recht gegen den stossenden gerichtet, und sich in der suite allemahl wieder in das Lager gesetzet, um den andern Stoß zu pariren. vid. cap. VII.[Anm: Kapitel 7]

8.
Stossen und pariren muß allemal auf beyden Seiten mit Vorsatz und Ernst geschehen, wenn man in beyden eine endliche Gewisheit erlangen will.

9.
Anfänger, die einen oder zwey Monat auf den maitre nur simple Tertie, Quarte und Seconde haben stossen, und auch solche pariren gelernet, dürfen nur sodenn 4 Monate mit obiger methode anfangen und continuiren, so werden sie den Nutzen nachfinden.

„Ich wünsche ihnen aber hierzu eine sangfroid und eine Befreyung von Vorurtheilen. Die Jugend will gleich contra fechten, das heist das Kalb beim Schwanze fassen:

[Seite 58] sen: dahero kömmt es, daß mancher, so schon etliche Jahre fechten gelernet hat, keinen Stoß in der mensur à dessein weder treffen noch pariren kan.“

„Zwote Anmerkung.
Wenn nun an der Wand zu stossen und zu parrien sich einer auf vorbeschriebene Weise geschickt findet, so fange

1.
der parirende an, des Gegners Stösse mit der cavation oder degagement zu parrien, dieser aber muß nach der cavationsparade allemal seinen Gegner wieder auf einer andern Seite, als wo er durch die parade zu liegen gekommen ist, engagiren, anders würde er immer einerley stossen, und nicht changiren.

2.
Dieses probiret durch Quarten, Tertien und Seconden einen Monat, und sehet, wie viel ihr Geschicklichkeit à dessein zu treffen erlanget habt.

Drittte Anmerkung.

Fanget alsdenn an, alle reine Stösse mit einer simplen Finte mit oder ohne appel auf euch

[Seite 59] euch stossen zu lassen, und parirt solchesimple, verfahret dabey in allem, wie in der ersten Anmerkung durch alle nummern.

Hierbey ist generalisiert zu observiren, daß einer das, was er auf einen gegner eine zeit machet, wieder auf sich vice versa machen läst, sonst wiürde nicht partie egal in der Geschicklichkeit werden.

Vierte Anmerkung.

1.
Verabredet euch mit eurem Gegner, alle Stösse mit der cavation zu stossen, gebt hierzu die nöthige Blöse und gelegenheit, ihr, der pariret, und ihr, der da stöst, verfahre der parirende allemal so, daß der Gegner wieder einen andern und nicht den nemlichen Stoß thun muß.
Gehet in der cavation so weit, daß ihr zweymal caviret und durch stosset, und der parirende zweymal caviret und doch pariret.

2.
Sodenn aber verhindert der cavirende den doppelt cavirend parirenden mit dem changement

[Seite 60] ment der Faust aus Tertie und Quarte, oder aus Quarte in tertie, welches sehr treffbar zu werden pflegt.

3.
Der parirende, so dieses zweymal mit cavirt, muß den changirten Fürsatz=Stoß mit recavation pariren, welches befreyen kan.
Ein manoeuvre, so demonstriret werden muß.

4.
Hierdurch wird mit der Zeit eine grosse adresse und Fertigkeit erlanget, wenn alles in mensur, Bedeckung, linie, senkrechten Ausfällen und dergleichen in richtigen paraden geschicht.
Wo aber genug Gedult für die liebe Jugend her, um solche Sache so ernsthaft zu tractiren? da will man lieber casu fortuio, als à dessein agiren.

„Ich will euch noch einen Rath geben, ihr, die ihr gerne spielet, setzet auf jeden regulairen Treffer einen kleinen Gewinn nach eurem gout, und auf die zwölf Fehler en suite eine beliebeige Strafzahlung, so

[Seite 61] so werdet ihr euch gewiß ambitioniret finden, und wird euch vielleicht mehr, oder das nemliche divertissament einschleichen, wie im noblen billardspiel. Ich habe eine societé von würdigen Personen und grossen Officiers in Stralsund und Hamburg gekannt, davon etliche AltKräußlerische, etliche Bohradische und Goerekische Scholaren in ihrer Zeit gewesen waren, welche ihre Geschicklichkeit durch diese Uebung auf den point der Gewißheit gebracht hatten [Anm.: des Hg.: eingefügt sind durch einen Sternchen-Vermerk folgende Namen an dieser Stelle: Ein Königl. Schwed. Obrist, von Stahl, Capitaine Jancke, Capitaine Cantia Galli von Loewenfels, Capitaine von Fidinghof, Cornet Lement, Lieutenant von Ripping, Maior vpn Phul, Lieutenant Falk], und niemand wird dieser anzunehmenden Art den effect absprechen können, c‘est le scavoir qui fait tout seul le prix des armes.

Derjenige maitre, so seinen Scholar jeden Tag ein gantzes Jahr lang nichts als die simplen Stösse, sodenn diese mit einer Finte,

[Seite 62] te, hernach mit der cavation in und aufs tempo und die paraden dagegen thun läst, thut weit mehr, als der, so ihm täglich ein Dutzend neue lectionen ein gantzes Jahr durch giebt. Der erste Scholar wird gewiß treffen, und der andre ohngefehr. Die leztere Art aber wird gemeiniglich von der Jugend fürs Geld zu ihrem grösten Schaden beliebt, denn sie glaubt, daß der maitre, so nicht täglich was neues docirt, sein metier nicht verstehe, mithin trift ein: nitimur in vetitum semperque negata cupimus.

Fast identisch ist dieser Wortlaut auch bei Weischner 1765 in Kapitel 26 auf Seite 37-41 zu finden. Für die Ausgabe von 1765 hat Weischner eine weitere Anmerkung hinzugefügt:

„Fünfte Anmerkung.
Wenn einer nach vorhergehenden Anmerkungen geschickt ist, und gut contrafechten lernen will, der lege sich mit seinem gegner mit dem hintern Fuß in Riemen, und fechte so ein halbes Jahr in der Treffmensur contra, sodenn aber frey mit dem hintern Fuß, um das alles wohl anzubringen, was er nach dieser Anweisung erlernet, so wird er, wenn er ander talent hat, fühlen was er gelernet und was er möglich machen kan.
Hat sich einer durch Ausschweifungen verderbet und weitläufig gemacht, auch dergestalt, daß er mit dem hintern Fuß nach rutscht, dem recommendire ich etliche Wochen an der Wand zu parrien und im Riemen zu stossen, so wird er sich gewiß wieder in seine Ordnung finden; experto credere fas est."

Anmerkungen:
(1) Weischner, Siegmund Carl Friedrich: Uebungen auf dem Fürstl. Sächsischen Hoffechtboden zu Weimar. Weimar, Hoffmann, 1764. [Digitalisat der ULB Sachsen-Anhalt].
Weischner, Siegmund Carl Friedrich: Die ritterliche Geschicklichkeit im Fechten durch ungezwungene Stellungen und kurzgefasste Lehrsatze. Weimar, Hoffmann, 1765. Nicht als Digitalisat verfügbar.
(2) Kapitel 26: Vom Stossen und parrien an der Wand

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